Titelthema
„Es ist eine Frage der Unternehmenskultur“
Herr Professor Süße, was zeichnet aus Forschungs-sicht „familienfreundliche Unternehmen“ aus?
Eine ganze Menge, es gibt eine Vielzahl an Variablen. Zum einen flexible Arbeitszeiten. Dabei ist es wichtig, dass es klare Richtlinien für Telearbeit und Homeoffice gibt. Es gibt Berufsfelder, die schlecht ins Homeoffice verlagert werden können. Da müssen Arbeitgeber Transparenz schaffen, wer was für wie viele Stunden macht und über Redundanzen dafür sorgen, dass genug Zeit für die Familienbetreuung bleibt. Die Digitalisierung in der Fertigung ermöglicht es, ein modernes Schichtsystem einzuführen. Wenn die Produktionsgewinne durch Künstliche Intelligenz realisiert werden, können weitere Aufgaben von zuhause aus erledigt werden. Heute müssen Mitarbeitende nicht mehr zwingend neben der Maschine stehen, um sie zu bedienen. Das würde dann auch aus dem Homeoffice heraus möglich sein.
Ein weiterer Punkt ist die Organisationskultur. Wie committed sind die Führungskräfte, wie verständnisvoll sind sie, wenn plötzlich das Kind aus der Kita abgeholt werden muss oder der Pflegedienst anruft? Manchmal kommt es auch vor, dass Mitarbeitende mit geringen familiären Verpflichtungen wenig Verständnis für Kolleginnen und Kollegen mit Kindern oder pflegenden Angehörigen aufbringen. Hier kann ein konstruktiver und offener Dialog zwischen allen Beteiligten helfen. Die Wertschätzung für Familie und Privatleben muss da sein und von den Führungskräften vorgelebt werden.
Unterstützung durch Vorgesetzte kann sich auch darin zeigen, dass sich die Betreuung von Familienangehörigen positiv auf die Leistungskennzahlen auswirkt. Auch innovative Angebote zur Stärkung des Selbstmanagements können dabei helfen, Mitarbeitende zu stärken, um den ständigen Balanceakt zwischen Arbeit und Familie gut bewältigen zu können.
Urlaubsrichtlinien sind ein weiterer wichtiger Baustein. „First come, first serve“ führt in vielen Fällen eher zu Frust. Ferienzeiten müssen fair und transparent aufgeteilt werden, um eine „Wettbewerbssituation“ zwischen Familien mit Kindern bei der Urlaubsplanung zu verhindern.
Bei der Kinderbetreuung können Arbeitgeber finanziell unterstützen, Patenschaften mit Kitas eingehen oder sogar betriebseigene Kitas einrichten.
Grundsätzlich ist es wichtig, dass betroffene Mitarbeitende aktiv bei der Planung und Gestaltung der jeweiligen Maßnahmen beteiligt werden, um den jeweiligen Bedürfnissen aller Beteiligten gerecht werden zu können.
Wie hat sich das Thema in den vergangenen Jahren verändert?
Vor rund 20 Jahren kam das Thema als großes strategisches Ziel auf, heute sollte es betriebliche Realität sein. Umfragen zeigen, dass jedes zweite Unternehmen als familienfreundlich wahrgenommen wird. Mit Familienfreundlichkeit lassen sich leichter Bewerberinnen und Bewerber finden und Mitarbeitende ans Unternehmen binden. Aber manchmal gibt es Situationen, in denen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bereit sind, Kompromisse einzugehen: Sie „opfern“ Familienleben, um Karriere zu machen. In der Regel ist solch ein „Tausch“ nicht besonders nachhaltig.
Können es sich Unternehmen heute noch leisten, ihren Mitarbeitenden keine Angebote zu machen?
Ganz klar „nein“. In Deutschland sind 11,6 Millionen Personen Eltern, das heißt rund ein Viertel aller Erwerbstätigen. Hinzu kommen 2,5 Millionen pflegende Angehörige. Diese in Summe 14 Millionen Personen können wir nicht ignorieren. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist somit essenziell.
In den USA werden Diversity-Programme ge-kippt, in Deutschland drehen sich Diskussionen um Homeoffice-Tage. Treten solche vermeintlich „weichen“ Themen angesichts der momentanen Wirtschaftslage zurück – oder bietet sie lediglich einen Vorwand, um Erreichtes in Frage zu stellen?
In der Forschung sprechen wir vom „Personalpendel“, das untersucht, wie wichtig und populär Personalmanagement in unterschiedlichen konjunk-turellen Phasen ist. In Boomphasen wird Familienfreundlichkeit auch aus Marketinggründen stark betont. In Schwächephasen werden die Initiativen eher zurückgefahren. In Deutschland haben wir jetzt die besondere Situation, dass eine konjunkturelle Schwächephase auf Fachkräftemangel trifft. Unternehmen können es sich nicht leisten, ihr Engagement zurückfahren. Es ist vermutlich Utopie, dass Künstliche Intelligenz so viele Fachkräfte ersetzen kann. In der Rückschau auf die Industriegeschichte zeigt sich, dass neue Technologie immer zu mehr Beschäftigung geführt hat. Gleichwohl sehen wir eine Veränderung und Erneuerung von Tätigkeiten, bis hin zur Entstehung ganz neuer Berufsfelder.
Sie forschen unter anderem zum Thema „Mensch-KI-Kooperation & -Kollaboration“. Lassen sich daraus auch Handlungsoptionen für das Thema Familienfreundlichkeit in Unternehmen ableiten?
KI-Systeme bedienen häufig klassische Karrieremodelle und Geschlechterstereotypen. Das passiert sehr subtil und ist durchaus eine Gefahr, wenn Sie Unternehmen familienfreundlich gestalten wollen. Dafür muss ein Bewusstsein geschaffen und die Antworten der KI-Modelle hinterfragt werden. Karriere muss beispielsweise nicht bedeuten, Geschäftsführer zu werden, es können auch Fachkarrieren ein Ziel sein. Auch die Frage „Wer betreut die Kinder?“ wird heute vielfältiger beantwortet als noch vor einigen Jahren.
Andererseits können humanoide Roboter oder KI-Systeme dabei helfen, dass ältere Personen länger in ihrer Häuslichkeit leben können. Die Sensorik im Smart Home kennt Bewegungsabläufe und kann Alarm schlagen, wenn zu Hause eventuell etwas nicht stimmt. Wichtig ist, dass solche Systeme Überbrückungssysteme sind, wenn beispielsweise der Zug mal wieder Verspätung hat. Sie ersetzen keinesfalls die Nähe und Wärme der Familie.
Wie sieht es in Ihrem eigenen Arbeitsumfeld aus, können Sie Beruf und Familienfreundlichkeit so vereinbaren, wie Sie sich es wünschen?
Ich denke schon, dass ich das gut kann. Allerdings bin ich als Hochschullehrer auch privilegiert. Gut ist, dass die Hochschule darauf setzt, den Frauenanteil zu erhöhen, insbesondere in den technischen Fächern. Die HSBI ist seit 2011 zertifizierte familiengerechte Hochschule. Zu den zahlreichen Angeboten gehören unter anderem die betriebseigene Kindertagesstätte „EffHa“ in Bielefeld. Zusätzlich wurde eine kostenlose Randstundenbetreuung eingerichtet. Auch die Ferienbetreuung in den Oster- und Herbstferien wird für Kinder von Studierenden und Beschäftigten der HSBI finanziert und organisiert.
Was würden Sie verändern?
Das jetzige Angebot ist weniger stark an kleinere Unternehmen adressiert. Auch die Forschung muss sich mehr Gedanken dazu machen, wie wir kleinere Unternehmen unterstützen können, noch familienfreundlicher zu werden. Eine mögliche Lösung wäre es, Netzwerke aufzubauen, um Redundanzen zu schaffen, mit denen auf Ausfälle kurzfristig reagiert werden kann. Warum sollte nicht eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter aus einem anderen Unternehmen einspringen, wenn jemand ausfällt? Es gibt keine Patentlösung, aber auch kleine Unternehmen müssen ihre Arbeitgeberattraktivität steigern. In der öffentlichen Diskussion fallen sie bislang leider häufig hinten runter.
Heiko Stoll
Zur Person
Prof. Dr. Thomas Süße lehrt und forscht seit 2019 am Campus Gütersloh der Hochschule Bielefeld. Der 41-Jährige vertritt am Fachbereich Ingenieurwissenschaften und Mathematik das Lehrgebiet Personal und Organisation. Süße, Vater von vier Kindern im Alter von sechs bis 15 Jahren, lebt mit seiner Familie in Essen. Er hat zunächst ein duales Studium in Wirtschaftsinformatik absolviert und sich während seiner Tätigkeit, unter anderem für den indischen Tata Konzern, im Zuge der Organisationstransformation immer stärker mit Management- und Personalthemen beschäftigt. Promoviert hat Süße über das Thema „Neue Formen des Organisierens“ und ist der Frage nachgegangen, wie der Weg vom klassischen Maschinenbauer zum Lösungsanbieter gelingen kann. Er ist außerdem Jurymitglied beim Wettbewerb „Mitarbeitende.gewinnen“, der jährlich von „pro Wirtschaft GT“ ausgerichtet wird.